Ulrich Fischer-Weissberger

Lehrer am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Waldkirch

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Eine psychoanalytischer Erklärungsansatz für das Nazi –Täterverhalten

 

Dieser Ansatz stammt aus dem Buch „Männerphantasien“ von Klaus Theweleit aus dem Jahr 1977. Es erschien im Zusammenhang der Aufarbeitung des NS durch die Generation der 68er-Bewegung und löste heftigste politische und wissenschaftliche Kontroversen aus.

 

Theweleit versucht in diesem Buch zunächst durch Aufarbeiten von typischen Biographien von Protagonisten aus dem rechtsextremen Lager der frühen Weimarer Republik wesentliche Merkmale der Erziehung, auffällige Verhaltensweisen, die das gewalttätige Verhalten in der Nazizeit vorwegnehmen, zu beschreiben, dies veranschaulicht er zunächst am Verhältnis dieser Männer zu Frauen; er bezieht sich hier auf autobiographische „Machwerke“ dieser Männer: Mütter spielen bei ihnen keine oder eine völlig nichtssagende Rolle, die Väter werden meist verachtet (Verlierer), die Kameraden in der Truppe (Freicorps zumeist) sind die eigentliche „Familie“. Beziehungen zu Frauen sind entweder durch eine unwirkliche Körperlosigkeit und Gefühlsunfähigkeit oder durch große Angst, die durch „lustvolles“ Zerstören oder Erniedrigen dieser Frauen kompensiert wird, bestimmt. Frauen können von ihnen nicht „wirklich“ wahrgenommen werden; sie werden entweder zu Heiligen oder Huren. Sie werden entweder beschützt – zuweilen mit dem prickelnden Gefühl, wie herrlich bedroht sie werden und was für ein Held der Mann doch ist (das kennt Mann aus Indianerspielen usw.) – oder man wendet sich voll Abscheu von ihnen ab, wenn Mann die Möglichkeit hat, tötet er sie. Dabei bleibt wichtig, dass diese Männer z.B. proletarische Krankenschwestern (für sie ein Widerspruch in sich) als sogenannte Flintenweiber wahrnahmen – Frauen, die es nur in der Phantasie gab, die auf struppigen Pferden Männer ermordet und verstümmelt haben sollen – und diese wehrlosen Frauen ohne Gnade umbrachten (so geschehen im Ruhrgebiet in den Kämpfen nach dem Kapp-Putsch 1920).

 

Ich habe hier 230 Seiten zusammengefasst, d.h., dass wirklich nur das Nötigste vorgebracht werden konnte.

 

Im Folgenden formuliert Theweleit sein „Zwischenergebnis“. Hier stellt er fest, dass das bisher Erarbeitete nicht mit den gängigen Theorien der Freudschen Psychoanalyse erklärt werden könnte. Freud gehe von einem festumrissenen Ich aus, das heißt, dass Freud in seiner Theorie den Menschen zeigt, der über sich und mit anderen kommunizieren kann, der sich von seinem Verhalten distanzieren, der ich-bewusst erleben kann. Er behauptet, dass dies nicht auf die oben beschriebenen Männer zutreffe. Unter Berufung auf die Kinderpsychologin Melanie Klein stellt er fest, dass die „Gewaltzustände“ dieser Männer eine hohe Ähnlichkeit mit Zuständen von psychotischen Kindern hätten (seine Frau ist Kinderpsychologin und stellte ihm einige Fälle vor).

 

Die Ursache für diese Krankheit liege nicht in einer Störung in der Ich - Entwicklung, wie sie Freud im Ödipuskomplex umschreibt, sondern in einer Störung bei der Herausbildung von Objektbeziehungen – das Kind nimmt nach dieser Theorie die Wirklichkeit zunächst als Teil von sich wahr und differenziert dann Merkmale der äußeren Wirklichkeit als Objekte (von ihm getrennte Dinge) aus dieser Wahrnehmung heraus; so entsteht kontinuierlich für das Kind die äußere Wirklichkeit – diese ist zumeist zunächst die Brust der Mutter, die Wärme usw., bis es schließlich sich selbst als Objekt wahrnehmen kann (2Jahre). Melanie Klein nennt diese Phase die symbiotische Phase oder die Phase der Dualunion. „Wenn die Loslösung aus der Symbiose gestört wird, sind schwere Störungen der Funktionen des Ich, das sich dann nie richtig entwickelt und schwere Störungen der Fähigkeit zu Objektbeziehungen die sichere Folge. (... der zu harten Mutter, die ihr Kind zu früh von sich stößt oder es nie richtig annimmt, und der zu `weichen`Mutter, die das Kind aus ihrer Umklammerung nicht entläßt.)“(257)

 

Die hieraus erwachsenden Störungen (er nennt sie nach Balint „Grundstörungen“) haben nicht die Gestalt eines Konflikts, d.h. klar definierter Wünsche, die von einem Ich ausgesprochen werden, sondern haben „´vielmehr die Form eines Fehlers (eines Fehlens) in der Grundstruktur, einer Störung, eines Mangels, der nach Ausgleich verlangt`“.(258) Wenn sie also gegen Personen vorgehen, dann geht es weniger wie bei einer Freudschen neurotischen (Neurosen sind Störungen, die aus der ödipalen oder späteren Phasen der Entwicklung stammen) Reaktion um die Abwehr der Bedrohung durch z.B. einen „vermeintlichen Vater“(Kastrationsangst),sondern eher um „Versuche, jenen Ausgleich eines grundlegenden Mangels zu erzielen.“(259)

 

Die Funktionen eines intakten Ich sind nach Freud zentral dafür verantwortlich, wie der Einzelne die Wirklichkeit bewältigt, so z.B. in der ödipalen Phase seinen Inzestwunsch verdrängt und die Energie, die diesem Wunsch anhaftet u.a. dazu „verwendet“ etwas „Kulturelles“ zu schaffen. „Wie nun, wenn dieses Ich gar nicht oder nur fragmentarisch existiert? Wer oder was setzt dann die Abwehrmechanismen in Gang? Wie funktioniert die Verdrängung? Die Abwehrformen dieser Männer – das haben wir gesehen – erschienen mit Formen der Lustgewinnung gekoppelt. Das ist ungewöhnlich.“(259) Beim Phänomen Verdrängung stieß Theweleit darauf, dass diese Männer ihre Triebwünsche nicht verdrängen, sondern, weil ihre Unfähigkeit, Personen oder Menschen an sich in ihrer Einzigartigkeit wahrzunehmen, sie diese Wünsche an diesen nur als Fragmente Wahrgenommenen „auslebten“. Trotzdem unterscheiden sie sich von den „klinischen Psychotikern“ dadurch, dass sie sehr wohl realitätstüchtig sind, aber ihre Realität eben auf dem oben angesprochenen Mangel basiert. So können sie nur „überleben“, indem sie versuchen, ihre Ich-Fragmente mit Gewalt zusammenzuhalten. „Es läßt sich die Vermutung daraus ableiten, daß es vor allem die Lebendigkeit des Realen (der ausgebildeten, erfüllten Ichs) ist, die diesen Mann bedroht. Je intensiver ihm Leben (Affekte, Emotionen) entgegentritt, desto aggressiver greift er es an und macht es im Extremfall ´unschädlich`. Das ist die eine Seite des Prozesses, seine Vernichtungsseite.

Was geschieht auf der ´Zeugungsseite`? Die ihres Eigenlebens beraubte Realität (sie besteht für diese Männer nur aus Fragmentarischem, Unzusammenhängendem, Unpersönlichem usw.) wird neu formiert, zu großen übersichtlichen Blöcken zusammengeschoben, die als Baumaterial dienen für eine übersichtlichere, zukünftige monumentale Welt, das ´Dritte Reich`. In solchen Konstruktionen von äußerlich gewaltigen festen Formen hat alles seinen Platz und bestimmten Wert (es wird von außen festgehalten durch eine für die Einzelnen fremde Gewalt, durch Autorität, durch einen Führer): das ´Heer`, wie die ´Nation`, das ´Deutschtum`, die ´Flintenweiber`, die ´Mütter`,..., die ´Arbeiter`, die´Krankenschwestern` und vor allem Soldaten.

 

Der Monumentalismus des Faschismus scheint sich als ein Sicherheitsmechanismus gegen die verwirrende Vielfalt des Lebendigen verstehen zu lassen. Je lebloser, geordneter, monumentaler die Realität erscheint, desto sicherer fühlen sich diese Männer. Die Gefahr ist die Lebendigkeit selbst.(272/73)

 

Zum Abschluss kurz noch einige Anmerkungen zur Vorgehensweise Theweleits in seinem Buch:

Ausgangspunkt ist sein Befremden gegenüber seinem Vater und der Vätergeneration, die ein merkwürdiges Verhalten in Erziehung und „Vergangenheitsbewältigung“ zeigen. Er beschäftigt sich mit deren Jugend und stößt auf das „Unerklärbare“ und von ihnen „Negierte“, auch spricht er dieser Generation die Schuld an einer „unsäglichen“ Erziehung in den 50er Jahren zu.

Seine Frage: Wie sind diese Männer zu verstehen? Woher komme ich? Bei seiner Suche nach Typischem stößt er auf die Protagonisten der rechtsextremen Militaristen, er findet signifikante Auffälligkeiten und Übereinstimmungen in deren biographischen Selbstdarstellungsmaterial. Natürlich waren nicht alle Männer, die maßgeblich den NS bestimmten so, aber solche Männer bildeten das Maß, das Ideal der Nazis, waren die typischen Nazis, waren die Vorbilder der Väter. Hier vergleicht er diese als die Form, in die die Männer im NS gegossen wurden. Im weiteren Verlauf versucht er das Verhalten dieser Männer zu erklären; er stößt auf frappierende Ähnlichkeiten in der Wirklichkeitswahrnehmung dieser Männer und der von Psychotikern. Er stellt fest, dass das Verhalten dieser Männer nicht mit den Freudschen Kategorien zu erfassen ist und entwickelt eigene Thesen, die er aus der „nachfreudianischen Theorie“ entlehnt. Im weiteren Verlauf der 2 Bücher erläutert er die historische Genese des obigen Verhaltens; danach untersucht er anhand der konkreten Erscheinungsformen des NS seine Theorie, wobei er sich u.a. auf Reich (Massenpsychologie des Faschismus), Cannetti (Masse und Macht), Elias (Der Prozess der Zivilisation), Deleuze/Guattari (Antiödipus), Walter Benjamin, um nur wenige zu nennen, beruft.

 

Wie schon gesagt waren die Männerphantasien sehr umstritten. Der wichtigste Vorwurf war m.E. der, dass die „Einzigartigkeit“ des Nazi-Täter-Verhaltens relativiert werde, weil Theweleit die Genese der Nazi-Männer in die Geschichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und hier speziell in das unproduktive und bei den Nazis tödlich werdende Verhältnis von Mann und Frau einordnete; die Nazi-Täter sind bei ihm ich-lose, infantile Tötungsmaschinen – so bis zu einem gewissen erklärbar - und keine aus allen Verstehenszusammenhängen fallenden Zombies, sie waren unsere Väter oder Großväter.

 

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