Eine Website zu Projekten aus dem Unterricht und außerunterrichtlichen Bereich von

Ulrich Fischer-Weissberger 

Lehrer am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Waldkirch

Information für Pressegespräch am 29. September 2004

Judenretter im deutschen Südwesten

(1938-1945)

Tagung an der Katholischen Akademie in Freiburg i. Br.,

8.-10. Oktober 2004

von

Prof. Dr. Wolfram Wette, Historisches Seminar der Universität Freiburg

Roman Polanski haben maßgeblich dazu beigetragen, dass ein in Deutschland jahrzehntelang Die Kinofilme "Schindlers Liste" (1994) von Steven Spielberg und "Der Pianist" (2002) von verdrängtes und verschüttetes Thema endlich ins öffentliche Bewusstsein gehoben wurde: Der Tatbestand nämlich, dass es in der Zeit des Nationalsozialismus auch im Lande der Täter und Mitläufer Menschen gegeben hat, die verfolgten Juden in solidarischer Weise geholfen und damit zu ihrer Rettung beigetragen haben. Es waren nicht viele, aber doch mehr als bislang angenommen. Sie verfuhren nicht nach der Mitläuferdevise, man könne ja doch nichts machen, sondern trafen für sich ganz persönlich die Entscheidung, verfolgte Juden zu retten. Sie nutzten ihre jeweiligen Handlungsspielräume und waren dabei sogar nicht selten erfolgreich.
Etwa seit Mitte der 90er Jahre hat sich die historische Forschung intensiver als zuvor mit diesen Helfern und Rettern befasst. Besonders auffallend ist der Tatbestand, dass jetzt endlich - mehr als fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges - auch ein gesteigertes öffentliches Interesse an diesen Menschen beobachtet werden kann. Yad Vashem-Ehrungen von "Gerechten unter den Völkern" werden, anders als in den Jahrzehnten zuvor, wahrgenommen. Veranstaltungen zum Thema sind gut besucht. Besonders junge Menschen zeigen Interesse. Judenretter werden heute nicht mehr als Verräter angesehen, sondern als "stille Helden" gewürdigt, die - ihrem Gewissen folgend - mutigen und riskanten Rettungswiderstand geleistet haben. Seit einiger Zeit erinnern so genannte Stolpersteine nicht nur an verschleppte und ermordete Juden, sondern erfreulicher Weise an Retterinnen und Retter. Den Initiatoren sei Dank!
In welchem geschichtlichen Raum bewegte sich Hilfe für jüdische Verfolgte? Nach 1933 erging es den badischen Juden zunächst nicht anders als den Juden in ganz Deutschland. Sie wurden ausgegrenzt, entrechtet, terrorisiert und in die Emigration gedrängt. Mit dem Pogrom vom 9./10. November 1938 verschärfte das NS-Regime den Auswanderungsdruck. Viele Juden, die bis dahin gehofft hatten, trotz aller Beschwernisse in ihrem Heimatland bleiben zu können, entschieden sich danach, es zu verlassen. Wir wollen in Erfahrung bringen, wie die Badener in dieser Phase der Entrechtung und Vertreibung der Juden reagiert haben. Sind für die Jahre 1938 bis 1940 Fälle von Solidarität mit den Verfolgten überliefert?
Im Herbst 1940, wenige Monate nach dem siegreichen Krieg der deutschen Wehrmacht gegen Frankreich, ereignete sich eine südwestdeutsche Besonderheit: Am 22. Oktober dieses Jahres wurden die badischen und südpfälzischen Juden, die noch im Lande verblieben waren - häufig waren es ältere Menschen -, in einer von den Gauleitern der NSDAP generalstabsmäßig geplanten, aber überraschend durchgeführten "Aktion" verhaftet. Sie wurden zwangsweise in Züge gestopft, die sie in jenen Teil Frankreichs verbrachten, der nicht von deutschen Truppen besetzt war. Die von den deutschen Maßnahmen überraschte Vichy-Regierung entschied, die Vertriebenen in das Pyrenäenlager Gurs weiterzuleiten. Dort herrschten KZ-ähnliche Zustände. Sie führten dazu, dass eine beträchtliche Zahl der Deportierten den Winter 1940/41 nicht überlebten. Wir fragen: Gab es Badener, die gegen diese Verschleppung demonstrierten? Oder solche, die hernach Verbindung zu ihren nach Gurs deportierten ehemaligen Nachbarn hielten? Gab es Unterstützung durch Briefe, Pakete oder Behördengänge?
Nicht verhaftet und verschleppt wurden im Oktober 1940 nur jene badischen Juden, die entweder einen nicht-jüdischen Ehepartner hatten oder solche, die man in der damaligen Sprache als Mischlinge bezeichnete. Sie entgingen allerdings nur vorläufig der Deportation. Im Raum Freiburg (Stadt und Land) waren dies immerhin 173 Personen. Bislang wissen wir noch wenig darüber, wie es diesen in den folgenden Kriegsjahren ergangen ist, besonders in jener Phase, als auch sie in die Vernichtungslager deportiert werden sollten. Gab es Helfer und Retter, die sie versteckten und zu retten versuchten? Wenn ja: Waren es nur einzelne oder gab es regelrechte Retternetze?
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Lage der verfolgten Juden in Deutschland insgesamt: Im Oktober 1941, vier Monate nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, erließ das NS-Regime ein striktes Auswanderungsverbot. Nun waren alle legalen Wege, das Land zu verlassen, verstopft. Die Deportationen in die Vernichtungslager im Osten begannen. Zu diesem Zeitpunkt - Herbst 1941 - lebten noch etwa 170.000 Juden in Deutschland. Von diesen sollen sich in Laufe der nächsten Jahre etwa 10.000 bis 15.000 der Deportation in die Vernichtungslager entzogen haben. Die meisten von ihnen tauchten in der Großstadt Berlin unter. Sie versuchten, in der Illegalität zu überleben. Als "U-Boote", wie sie sich selbst nannten. Den meisten von ihnen gelang dies allerdings nicht. Nur etwa 3.000 bis 5.000 verfolgte und untergetauchte deutsche Juden waren bei Kriegsende noch am Leben. Fast 1500 überlebten in Berlin.
Durch Zeitzeugenberichte und historische Forschungen, die sich hauptsächlich auf Berlin beziehen, haben wir eine ungefähr Vorstellung davon, welches Potential an Rettern hierzu erforderlich war. Jeder oder jede Untergetauchte benötigte im Durchschnitt etwa 20 Helfer und Mitwisser, um überleben zu können. Das würde - hochgerechnet - bedeuten, dass sich damals vielleicht doch mehrere Zehntausend Deutsche an der Rettung von jüdischen Nachbarn, Freunden und Fremden beteiligt haben. Trotz der antisemitischen Verhetzung! Trotz der verbreiteten Denunziationsbereitschaft!
Auch im deutschen Südwesten hat es Menschen gegeben, die in den Kriegsjahren verfolgten Juden halfen. Aber ihre Namen und ihre Rettungstaten sind in der Region nur wenig bekannt, wahrscheinlich nur jenen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die ein spezielles historisch-politisches Interesse haben. Dabei gibt es heute eine facettenreiche, aber sehr verstreut publizierte historische Forschung:
- Zum Beispiel über die Freiburger Caritas-Angestellte Dr. Gertrud Luckner, die systematisch Juden half, nicht nur in Baden, sondern auch in anderen deutschen Städten; obwohl sie - ebenso wie andere Mitglieder der katholischen Kirche - nicht wusste, ob sie wegen dieser Judenhilfe "von oben" gedeckt würde oder nicht;
- zum Beispiel über den aus Gengenbach stammenden protestantischen Pfarrer Hermann Maas, der in der NS-Zeit eine große Stadtgemeinde in Heidelberg betreute und als Judenfreund bekannt war;

- zum Beispiel über den Pater der Herz-Jesu-Priester Heinrich Middendorf, der die Verantwortung für das Kloster Stegen bei Freiburg trug und dort auch Juden versteckte; - zum Beispiel über jene Pfarrer, Bauern, Handwerker und Arbeiter am Hochrhein zwischen Bodensee und Basel, die verfolgten Juden schon 1938, als die österreichischen Juden ihr Land verließen, zur Flucht in die neutrale Schweiz verhalfen;

- zum Beispiel über jene Retterinnen und Retter, die von Berlin und anderen Städten aus mit den Fluchthelfern am Hochrhein zusammen arbeiteten;
- aber auch über jene Helfer und Retter in der Schweiz, die selbst dann eigenverantwortlich im Sinne der Humanität handelten, als ihre Regierung eine restriktive Flüchtlingspolitik praktizierte, die dazu führte, dass viele hilfesuchende Juden - und andere Flüchtlinge - wieder zurückgewiesen wurden. Es sollen um die 30.000 gewesen sein, etwa genau so viele, wie die Schweiz zwischen 1938 und 1945 aufnahm;
- zum Beispiel über den aus Buchenbach stammenden Wehrmachtoffizier Erwin Dold, der in der letzten Kriegsphase die Funktion eines KZ-Kommandanten innehatte und sie mit aktivem Anstand ausübte.
Nur selten hat das inzwischen verfügbare Wissen über Judenhilfe und Judenrettung im deutschen Südwesten den Weg in eine breitere Öffentlichkeit gefunden. Hier setzt die Tagung "Judenretter in der Region" an. Sie will die lokalen und regionalen Rettergeschichten aus ihrem Schattendasein herausholen und diejenigen Autoren zu Worte kommen lassen, die sich durch eigene Forschungen an der Aufarbeitung des großen Themas "Judenverfolgung und Judenrettung in der Region Südbaden" beteiligt haben.
Dabei soll nicht der Eindruck erweckt werden, das Thema Judenhilfe und Judenrettung im deutschen Südwesten sei schon systematisch oder gar abschließend erforscht. Wir haben einzelne Mosaiksteine, aber noch kein Bild. Die Mosaiksteine sind jedoch sprechend genug, um das Thema - vermutlich erstmals in dieser Form - vor einem breiteren Publikum öffentlich zu behandeln. Damit ist ein Wunsch verbunden: Wir Referenten erhoffen uns von dieser Tagung - über den gegenseitigen Austausch hinaus -, dass sich Zeitzeugen melden mögen, die Hinweise auf bislang nicht bekannte Fälle von Hilfe und Rettung geben können; und dass damit Anstöße für weitere Forschungen gegeben werden.
Zu Worte kommen bei dieser Tagung Forscherinnen und Forscher, die sich intensiv mit einzelnen Fälle auseinander gesetzt haben, sie zum Teil überhaupt erst ans Licht gebracht und damit der Vergessenheit entrissen haben. Darunter sind "gestandene" Historikerinnen und Historiker, aber auch ein Journalist, ein Mitarbeiter der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, eine Studentin und zwei Studenten vom Historischen Seminar der Universität Freiburg, schließlich ein Gymnasiallehrer und ein Schüler des Waldkirch Geschwister-Scholl-Gymnasiums. Die beiden Letztgenannten haben sich auf eine m. W. einzigartige Weise mit dem Thema Retter in unserer Erinnerungskultur auseinander gesetzt.
Wer sich mit Judenhelfern und Judenrettern in der NS-Zeit beschäftigt, wird sich auch die Frage stellen, welcher Gefährdung, welchem Risiko sich ein Zeitgenosse aussetzte, der sich nicht an der Ausgrenzung und Vertreibung von Juden beteiligte, sondern gegen den Strom schwamm und seinem humanen Gewissen folgte. Er will auch wissen, von welchen Motiven sich die Helfer und Retter haben leiten lassen. Damit kommen zentrale ethische Fragen in den Blick: Was versetzte diese Menschen in die Lage, Zivilcourage unter den extremen Bedingungen der damaligen Zeit zu praktizieren? Schließlich wird man den Blick über die Region und über Deutschland hinaus weiten und erkennen müssen, dass Vertreibung, Flucht und Rettung auch damals eine internationale Dimension hatten, lagen die Fluchtziele der Verfolgten doch nicht nur in der neutralen Schweiz, sondern sehr viel häufiger in Übersee.
Zu danken ist der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg, dass sie meine Idee, eine zeitgeschichtliche Tagung über Judenretter in der Region Südbaden zu veranstalten, sogleich aufgegriffen und in Planung und Tat umgesetzt hat. Dank gilt auch den Mitveranstaltern, die mit uns der Auffassung sind, dass dieses Thema einen festen Platz in unserer demokratischen Erinnerungskultur haben sollte.
Wichtige inhaltliche Anregungen verdankt die Tagung einem Projekt der Historischen Friedensforschung mit dem Titel "Empörte, Helfer und Retter aus der Wehrmacht", das ich leiten durfte. Es wurde über mehrere Jahre hinweg von der Bremer Stiftung "die schwelle. Beiträge zur Friedensarbeit" unterstützt. Aus diesem Projekt gingen zwei Buchpublikationen hervor: "Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht" (3. Aufl. 2003) und "Zivilcourage. Empörte, Helfer und Retter aus Wehrmacht, Polizei und SS" (2004). Weiterhin sind ermutigende Erfahrungen aus der wissenschaftlichen Arbeit mit Studierenden der Universitäten Luzern und Freiburg in das Tagungsprojekt eingegangen.