Bericht von Juliane Zarchi über ihr Arbeiten

(Ich habe Berichte über das Schicksal der Frauen kursiv gesetzt oder fett gedruckt.)

HILFSFONDS                        Sickingenstr. 50

JÜDISCHE SOZIALSTATION " e.V.                        79117 Freiburg

Ghetto Überlebende Baltikum                 Tel. 0761 65086

 

Juliane Zarchi hat auf Bitten von Hartmut Metzger vom Tübinger „Denkendorfer Kreis " und mir den nachfolgenden Bericht geschrieben, der Ihnen einen Einblick in ihre Tätigkeit als "Sozialer Besuchsdienst" geben soll. Sie erinnern sich: seit Frida Preiskeliene im Frühjahr 2000 nach Israel ausgewandert ist, betreut sie mit Spendengeld von unserem Hilfsfond und vom" Denkendorfer Kreis für christlich‑jüdische Begegnung“ die nicht sehr große Gruppe der russischen Juden". Das sind, wie die meisten von Ihnen wissen, Menschen, die den 2. Weltkrieg ständig auf der F7ucht vor den deutschen Truppen meist unter lebensbedrohlichen Umständen in Russland verbracht haben und irgendwann nach Kaunas zurückgekehrt sind Es sind alte, kranke, zum Teil sehr kranke, Menschen, die von der unzureichenden staatlichen Rente leben müssen. Ihre Lage ist besonders hoffnungslos, weil niemand sich für sie verantwortlich fühlt. Sie besitzen keinen Fürsprecher, keine Stütze durch eine aktive Gruppe wie die Ghetto‑Überlebenden durch ihren Verein. Sie brauchen aber Hilfe manchmal fast lebensnotwendig.

 

Daher haben wir, Hilfsfonds und Denkendorfer Kreis, als wir von der Situation der "russischen Juden" hörten 1998 den "Sozialen Besuchsdienst Kaunas" eingerichtet, der nach ausgiebiger Erkundung, gemeinsamer Beratung und kontrollierter Abrechnung Hilfsbedürftigen finanzielle Unterstützung gewährt. (z.B. wurden Vtira die Operationen, anderen Medikamente und/oder Zuschüsse zur Rente bezahlt).

 

Wie Juliane Zarchi diese nicht einfache Aufgabe ausfüllt, was sie bei ihren Besuchen "sieht und hört", darüber lesen Sie im anschließenden Bericht.

 

Besuchsprotokoll

 

Freitag, 29. November 2002

 

Ich besuche drei Frauen aus der Gruppe der „russischen Juden", die in der Nähe meines Viertels in einer Plattenbausiedlung aus den 60er‑70er Jahren wohnen. Die Häuser, sowie alles was drin ist: Türen, Fenster, Formationen, Einrichtungen sind von schlechter Qualität, dazu alt. Alles ist renovierungs‑ oder sanierungsbedürftig. Schon an der Haustür, vor allem im Treppenhaus begegnet einem die Misere.

 

Die Bewohner mancher Häuser schaffen es, Geld unter den Mietern zu sammeln und Eingangstür, Treppe und Wände etwas auszubessern. Wenn aber viele Rentner im Haus wohnen, geschieht gar nichts. Die Renten sind ohnehin zu klein für ein auskömmliches Leben, und besonders im Winter, wenn die Kosten steigen, geht es den Menschen sehr schlecht, dann kommen sie fast nicht mehr über die Runden. Leider beginnt der Winter in Litauen früh und dauert lange.

 

Die drei Frauen, die ich heute aufsuchen will, sind Rentnerinnen, und auch sonst haben sie einiges gemeinsam: sie sind alleinstehend, um die 80 Jahre alt, krank und pflegebedürftig.

 

Es dauert lange, bis LEA MINKINA die Tür öffnet. Auf ihren Krücken humpelt sie langsam zurück zu ihrem Bettsofa Frau Minkina ist von so vielen Leiden geplagt, dass ich mich über ihre Ruhe, ihr freundliches und offenes Lachen wundere. Sie ist zuckerkrank, muss sich jeden Tag Insulin spritzen, ihre Beine sind dick und wund, die Lymphdrüsen sind nicht in Ordnung, ihre Gelenke entzündet, sie leidet an Psoriasis und an einer schwachen Blase. Daher muss sie Windeln tragen, die sind sehr teuer. Sie ist auf die Hilfe der Nachbarn angewiesen und kann die Wohnung nicht mehr verlassen.

 

. Die Lebenshaltungskosten steigen ständig: das Gas wird laufend teurer, d.h. die Heizkosten erhöhen sich. Die Mieten haben sich z.T. fast verdoppelt, die Medikamente sind kaum noch erschwinglich, selbst die früher so billigen Telefonkosten haben nach der Privatisierung spürbar angezogen.

 

Diesmal klagt Lea über eine starke Allergie. Sie meint, die komme von den vielen Arzneimitteln, auf die sie angewiesen ist. Die Medizin gegen Allergie ist auch sehr teuer. Der größte Teil ihrer Rente, wenn nicht die ganze Rente (364 Litas = 106 Euro), wird für Medikamente verbraucht. Ich bringe ihr, wie schon einige Male zuvor, Penaten‑Baby‑Salbe aus der Medikamenten‑Spende unserer Freunde aus Tübingen und die 50 Euro.

 

Ich verabschiede mich und verspreche, nächsten Monat wiederzukommen.

 

Ganz in der Nähe von Lea Minkina wohnt IDA BRAGINSKAJA. Obwohl ich öfter hierher komme, fällt es mir schwer, mich bei der öden Gleichförmigkeit der Häuser und den kaum leserlichen Hausnummernschildern zurecht zu finden. Obschon Invalidin der zweiten Gruppe, scheint Ida im Moment in einem einigermaßen stabilen Gesundheitszustand. Im vorigen Jahr ging es ihr schlecht, sie war gestürzt und hatte den Fuß gebrochen.

 

Wie die beiden anderen Frauen lebt sie in einer kleinen Einzimmerwohnung, auf die sie stolz ist. Bescheiden, aber gemütlich und proper ist es hier. Sonnabends, wenn das Wetter gut ist und sie sich wohl fühlt, geht sie in die jüdische Gemeinde, um Bekannte zu treffen.

 

Ida besuche ich nicht so oft wie die beiden anderen Frauen. Aber jetzt im Winter, mit dem Beginn der Heizperiode wird es äußerst knapp mit dem Geld. Ihre Altersrente (311 Litas) und die Invalidenrente (37 Litas) zusammen also 350 Litas = etwa 100 Euro, braucht sie zum großen Teil für Nebenkosten, sie reichen kaum noch für Lebensmittel.

 

Heute bleibe ich länger, denn Ida beginnt plötzlich von ihren Eltern zu erzählen. Die Mutter stammte aus einer wohlhabenden Familie. Diese besaß ein Juweliergeschäft in Kaunas und ein Haus in der Altstadt. Während des 1. Weltkrieges wurde die Familie wie viele Juden in Litauen nach Russland deportiert. Die Zarenregierung fürchtete, dass die Juden mit den Deutschen kollaborieren würden.

 

In Russland heiratete Idas Mutter einen Juden aus der Ukraine und lebte dort mit Mann und vier Kindern bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges. Beim Einmarsch der deutschen Truppen 1941 wurde die ganze Familie außer Ida ermordet. Nur zufällig blieb sie am Leben. Sie besuchte damals eine medizinisch‑technische Schule, die Schüler mussten vor der Stadt Schützengräben ausheben, als die Deutschen den Ort besetzten. Sie konnte nicht mehr nach Hause zurück, sondern lief mit den anderen Flüchtenden ostwärts. In Kasachstan lebte eine Schwester ihrer Mutter, dorthin versuchte sie zu fliehen: in Güterzügen, die ständig bombardiert wurden, dann zu Fuß, hungernd, erschöpft und voller Angst. Nach langen Wochen erreichte sie Kasachstan und fand ihre Verwandten, die ihr beim Neuanfang halfen. Ida ging nun in eine Schule für Traktor‑ und Landmaschinenfahrer, weil man dort ein kostenloses Mittagessen bekam. So wurde das kleine, sehr zarte Mädchen eine perfekte "Mechanisatorin", sie fuhr nicht nur Maschinen, sondern reparierte sie auch. Voller Stolz erzählt Ida immer wieder die Geschichte: wie kräftige Männer auf ihre Anweisungen Traktoren reparieren mussten.

 

Nach dem Krieg zog es Ida in das Herkunftsland ihrer Familie nach Litauen. Eine andere Schwester ihrer Mutter war gerade aus einem KZ in Deutschland nach Kaunas zurückgekehrt. Sie hatte als einzige von den litauischen Verwandten überlebt. Diese Tante half ihr, in Kaunas Fuß zu fassen.

 

So habe ich wieder eine Lebensgeschichte gehört von der ich zwar schon einzelne Episoden kannte, die mir heute aber besonders nahe geht. Ich denke an die vielen Vertriebenen und Deportierten, an Gefangenennot und Flüchtlingselend. Was half diesen Menschen, den Verzweifelten, zu überleben? Ein Wunder? Oder

Lebensmut, die Kraft zum Widerstand gegen die erdrückende Verhältnisse? Oder die Unterstützung durch hilfsbereite Menschen?

 

Mit solchen Gedanken und einem warmen Gefühl überquerte ich eine breite Verkehrstraße zu meinem letzten Besuchsziel.

 

Ich weiß, das Zusammensein mit MIRA FRIEDBERG wird schwierig. Sie ist mir aber die Vertrauteste von den drei Frauen. Wir telefonieren oft. Mira ist fast blind und sehr "anlehnungsbedürftig", um es salopp zu sagen, Manchmal bittet sie mich um einen Gefallen. Dann schreibe ich für sie Briefe an ihren Cousin, der vor einigen Jahren von St. Petersburg nach Deutschland ausgewandert ist. Oder wenn lange kein Lebenszeichen von ihm kam, rufe ich ihn an. Mira ist dann beruhigter. Sie braucht das Gefühl, dass jemand da ist, zu dem sie gehört. Sie ist doch ganz alleine auf der Welt.

 

Miras Blindheit ist die Folge ihrer Zuckerkrankheit. Zwei Operationen haben nicht viel geholfen. Sie kann stundenlang über ihr Los und die ganze Welt, besonders über die Ärzte, klagen. Gleichzeitig besitzt sie ein lebendiges Interesse für alles, was um sie herum und in der Weit geschieht. Sie hört den ganzen Tag Radiosender aus der ganzen Welt, die in russischer Sprache senden. So ist sie immer umfassend über alles informiert und äußert zu jedem Ereignis ihre Meinung, wach, auch bereit über Kurioses fröhlich zu lachen.

 

Ihre Wohnung verlässt sie nur selten, und wenn, in Begleitung.

 

Die kleine Wohnung von Mira ist im Gegensatz zu der von Ida Braginskaja ein Alptraum. Hier wurde seit einer Ewigkeit kein Gerät mehr ausgetauscht, nichts ausgebessert, keine Wand gestrichen. Die Sachen liegen in Beuteln oder einfach zusammengebündelt herum, verdeckt durch Tücher oder Papier. Es scheint so, als fände sie nur auf diese Weise, was sie braucht.

 

Es gibt im Zimmer nur einen freien Stuhl, auf dem ich Platz nehme. Mira sitzt auf dem Rande ihres Bettsofas, das mit Bündeln beladen ist. Sie hat Herzbeschwerden, geschwollene Füße und Säcke unter den Augen. Sie sieht mitleiderregend aus. Ich bringe ihr außer Geld auch immer etwas Leckeres zum Essen mit, ich weiß, sie isst gerne ‑ trotz Diät. Heute bringe ich ihr auch ein Mittel gegen Mäuse. Denn sie behauptet steif und fest, Mäuse kämen nachts und würden sich durch lautes Nagen am Linoleum ihres Fußbodens bemerkbar machen. Sie hinterließen keine Spuren und ließen sich in keine Falle locken. Nur eben das laute Nagen. Ich glaube nicht, dass die Mäuse tatsächlich existieren, gebe ihr aber die Tube mit dem Mäusebekämpfungsmittel.

 

Mira sitzt also auf dem Rand des Sofas, und auch sie beginnt zu erzählen. Sie klagt nicht wie üblich. Sie sagt, dass Erinnerungen an die Vergangenheit sie in letzter Zeit sehr beschäftigen. Sie denke jetzt oft an die schlimme Zeit, als ihre Mutter vor Hunger starb und sie mit 15 Jahren alleine in der Fremde zurückblieb.

 

Die kleine Familie, Mutter und Tochter (der Vater war schon früher gestorben) lebte in Belorussland. Als der Krieg 1941 begann, mussten vor allem die Juden vor den deutschen Truppen fliehen. Die beiden Frauen versuchten, sich unter großen Gefahren und Entbehrungen überwiegend zu Fuß zu Verwandten nach Kirgisien durchzuschlagen; als sie dort ankamen, fanden sie niemanden. Nun war ihre Situation fast ausweglos. Eine zeitlang lebten sie bei einer Familie, bei der sie im Haushalt halfen und auf die kleinen Kinder aufpassten. Als man ihre Hilfe nicht mehr brauchte, standen sie wieder auf der Straße, ohne Geld und Unterkunft. Es gab zu dieser Zeit im Osten der Sowjetunion eine große Anzahl von Flüchtlingen aus dem von der deutschen Wehrmacht besetzten Westen des Landes. Die Menschen hungerten, es fehlte ihnen an allem. Mira und ihre Mutter fanden schließlich einen kleinen feuchten Keller, den sie bewohnen durften. Sie schliefen auf dem Lehmboden Die Sachen waren immer feucht und schmutzig. Da sie auch nichts zu essen hatten, kam die Mutter bald wegen Unterernährung ins Krankenhaus. Mira erinnert sich an das kleine hölzerne Gebäude und an den Tag, als sie sie zum letzten Mal sah. Die Mutter begleitete Mira noch bis zur Tür und erzählte ihr einen Traum, den sie so deutete, dass ihre Tochter eine große Reise vor sich habe.  Am nächsten Tag war die Mutter tot und Mira völlig allein.

 

Kurz darauf, als offiziell für eine Telegrafistenschule in Usbekistan geworben wurde, ging Mira nach Taschkent. Sie wurde in einem Wohnheim untergebracht mit 20 Frauen in einem Zimmer. Hier erlernte sie den Beruf, den sie bis zu ihrer Pensionierung ‑ auch hier in Kaunas ‑ ausübte.

 

Nach Litauen kam Mira nach dem großen Erdbeben in Taschkent 1966. Damals wurde den überlebenden Einwohnern die Möglichkeit geboten, in fast jeder Stadt der Sowjetunion eine Wohnung zu bekommen, was in jener Zeit ein großes Privileg war. Mira wählte Litauen. Bis zu ihrer Übersiedlung nach Kaunas lebte sie immer noch in einem Wohnheim mit vier Frauen in einem Zimmer.

 

So ist diese kleine renovierungsbedürftige Einzimmerwohnung in einem heruntergekommenen Plattenbau die erste und wahrscheinlich einzige Wohnung, die sie in ihrem Leben je hatte.

 

Mira begleitet mich zur Tür, sie weint bitterlich.

 

Nachts liege ich lange wach. Ich denke an das, was ich gesehen und gehört habe. Ich erinnere mich aber auch an meine Mutter und mich, ich war kaum sieben Jahre alt, als wir im April 1945 als Deutsche von Kaunas nach Tadschikistan deportiert wurden.

 

Wir wohnen mit anderen Familien in einer Baracke in einem Raum. Alle liegen wir auf dem Lehmboden. Ich bin schwer krank, eine Herzkomplikation nach falsch behandelten Masern. Keiner der Bewohner der Baracke glaubt, dass ich überlebe. Dann sehe ich uns beide wieder auf der Suche nach einer Bleibe. Wir landen in einem ehemaligen Pferdestall. Später nimmt uns ‑ deutsche Deportierte ‑ eine einheimische Krankenschwester mit drei Kindern in ihrem Zimmer auf, deren Mann im Krieg gegen Deutschland gefallen war.

 

Wir waren oft krank, hatten kaum zu essen und durften uns keinen einzigen Kilometer von dem Ort, an dem wir lebten, entfernen.

 

Jetzt in dieser schlaflosen Nacht fühle ich mich meiner toten Mutter ganz nah, ich danke ihr, dass sie damals die Kraft fand, am Leben zu bleiben und nicht zu sterben. Was meine Mutter erlebt hat  während der Naziherrschaft in Kaunas, in dem Land, in dem in den fünf Monaten bis Dezember 1941 schon 160.000 Juden ermordet waren, kann ich mir nur vorstellen. Was sie dann nach 1945 in der Verbannung erlebt hat, weiß ich. Genug für viele Tode. In jener Nacht bin ich voller Dankbarkeit für ihren Mut auszuhalten und nicht aufzugeben.

 

Meine Mutter hatte die Begabung oder das Glück, immer gute Freunde zu haben. Wie durch ein Wunder war in der Not immer eine helfende Hand da

 

Kaunas. Dezember 2002,                        Juliane Zarchi